Die Hure

Was führt eine junge Frau in die Prostitution? Nicht selten die Liebe zu ihrer Familie. Vielleicht brachte der Flachsanbau nicht genug Geld ein, um Vater, Mutter, Brüder und Schwestern zu ernähren, und diese Ärmlichkeit machte sie auch nicht gerade zu einer attraktiven Partie für potentielle Ehemänner. Aber sie war jung und hübsch und nicht gerade dumm, und so entwickelte sie ihr eigenes Businessmodell. Ihr Haus in der Stadtmauer eignete sich gut zum Übernachten für allerlei Händler, die noch eine Nacht in Jericho verbringen wollten und ihren besonderen Service gerne mitnahmen. Auch die Männer aus der Stadt kehrten gerne bei ihr ein. Und wenn sie auch das Gefühl hatte, sie alle zu kennen und von manchen mehr wusste als deren eigene Ehefrauen (und wie hassten die sie dafür), so gab es doch keinen, der je zu ihr gesagt hätte: “Willst du meine Frau werden?” und sie aus dieser ganzen Misere erlöst hätte.

Ja, sie wusste vieles und hörte vieles, und auch wenn sie nur eine Hure war, so hatte sie doch mehr Hirn zum Nachdenken als manche andere. Und zur Zeit dachte sie besonders viel nach über dieses Volk, dass da jenseits des Jordans, gar nicht weit von ihnen, sein Lager aufgeschlagen hatte. Was man alles über diese Leute gehört hatte! Einem gewaltigen Gott sollten sie dienen, der sie vor über 40 Jahren aus Ägypten geführt hatte gegen den Willen des Pharao. Die alten Leute erinnerten sich noch an die Gerüchte von furchtbaren Plagen, die dieser Gott über Ägypten geschickt haben sollte, so dass die Bedrücker das Volk endlich ziehen lassen mussten. Und dann habe ihr Gott das Rote Meer gespalten, damit sie trockenen Fußes vor den nachfolgenden Feinden fliehen konnten – die dann hinter ihnen mit Mann und Maus jämmerlich ersoffen. Was für ein Gott musste das sein, und was für ein Interesse hatte er wohl an diesem kleinen Volk, dass er so einen Aufwand für sie betrieb?

Vor 40 Jahren sollten sie schon mal ganz in der Nähe gewesen sein, aber dann kehrten sie aus unerklärlichen Gründen wieder in die Wüste zurück. Und jetzt waren sie wieder da, und was sich ihnen entgegengestellt hatte, das hatten sie einfach platt gemacht. Es hieß, ihr Gott habe ihnen das Land Kanaan versprochen, und das machte die Leute nervös. Denn wenn auch nur die Hälfte davon stimmte, was man hörte, dann war Jericho in ernster Gefahr.

Irgendwie gefiel ihr dieser Gott. Er schien sich um seine Leute zu kümmern. So einen könnte sie gebrauchen, der war nicht wie ihre Götter, denen man nur immer alles ins Maul stopfen musste, und die doch nichts für einen taten oder tun konnten. Oder warum hatten jetzt alle die Hosen voll?

Diese zwei Männer, die heute hier um ein Nachtquartier gebeten hatten, die kamen ihr irgendwie komisch vor. Die hatten so einen merkwürdigen Akzent, den sie noch nie gehört hatte. Und die waren so was von hundemüde! Sofort eingeschlafen sind sie.

Es klopfte an die Tür, besser gesagt, es polterte.  “Bei dir sollen zwei Männer sein, die wir dringend suchen. Die sollen raus kommen! Das sind Spione!”

Wie ein Blitz zuckte es ihr durch Kopf und Herz! Die zwei Männer! Die gehörten zu diesem Gott! Das war ihre Chance!

Von dem Poltern waren die zwei Spione auch wach geworden, und nun trieb sie sie flüsternd aufs Dach hinauf, wo der Flachsspeicher war und wies sie an, unter den Flachs zu kriechen. Dann öffnete sie die Tür.

“Zwei Männer?” fragte sie mit verschlafenem Blick. (Ach, in Verstellung hatte sie Übung! Das wollten doch immer alle von ihr!) ”Ja, ja, die waren hier. Aber die sind längst wieder weg, kurz ehe bei Einbruch der Dunkelheit die Stadttore geschlossen wurden. Keine Ahnung, wo die hin sind! Vielleicht kriegt ihr sie noch, wenn ihr euch beeilt.” Und mit einem Gähnen schloss sie die Tür. Die Verfolger aber ließen sich noch einmal das Stadttor öffnen, um völlig sinnlos draußen in der Dunkelheit herumzusuchen.

Aber nun war es Zeit für ein ernstliches Gespräch mit ihren beiden Gästen. Sie saßen nun im selben Boot. Indem sie sie in Schutz nahm, hatte sie ihr Schicksal an das ihre geknüpft, und sie hoffte, dass sie das honorieren würden.

“Hört zu,” sagte sie, “dass ich das jetzt gemacht habe, liegt nicht daran, dass ihr zwei nette Kerle seid. Sondern ich weiß, dass ihr einen starken Gott habt, und er wird euch dieses Land geben. Ich habe eine Familie, die ich liebe. Ich helfe euch jetzt hier raus, und dafür tut ihr meiner Familie nichts, wenn ihr als Sieger kommt. Schwört mir das!”

Sie schworen es bei ihrem Leben und gaben ihr genaue Anweisungen. Wenn es so weit war, sollte sie ihre Familie bei sich im Haus versammeln und eine rote Schnur an das Fenster binden, durch das sie sie nun hinaus lassen würde. Wenn sie sich nicht an diese Abmachung halten würde, dann allerdings könnten sie nichts mehr für sie tun. “Das könnt ihr mal glauben, dass ich mich daran halte,” sagte sie. “Und jetzt ab mit euch! Am besten bleibt ihr da in den Bergen für drei Tage, da habt ihr den Überblick und könnt eure Verfolger beobachten und sehen, wann sie aufgeben.”

Und es kam so. Gott gab Jericho in die Hand Israels, und sie machten die Stadt dem Erdboden gleich. Aber an Rahabs Tür erschienen ihre beiden Bekannten. Sie holten sie und ihre Familie höchstpersönlich heraus und führten sie ins israelitische Lager.

Das war nun ein Wechsel in der Lebensweise! Rahab hatte viel zu lernen! Dieser Gott, dem sie nun dienen wollte, hatte ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie man lebt. Von ihrem Gewerbe hielt er offensichtlich nicht viel, und je mehr sie verstand, wie er eigentlich war und dachte, desto mehr wunderte sie sich, dass sie unter diesem Volk wohnen durfte. Sie sah die Leute Schafe und andere Tiere auf einem Altar opfern. “Warum macht ihr das?” fragte sie. “Damit unsere Sünden vergeben werden!” war die Antwort. Ob Gott auch ihre Sünden vergeben würde? Und wovon sollte sie hier leben, wenn sie nicht sündigen durfte?

Und während sie versuchte, die Wege des Gottes Israels zu verstehen und zu befolgen, bekam ihr Vater Besuch. Von Salmon. “Ich bitte um die Hand deiner Tochter Rahab,” sagte er. Ihr Vater schaute ihn zweifelnd an. “Du weißt, wie sie ihren Lebensunterhalt verdient hat?” fragte er. “Ja, ich weiß es,” antwortete Salmon. “Aber sie hat ihre Zuflucht zum Gott Israels genommen, und bei unserem Gott ist viel Vergebung. Auch unserem Stammvater Abraham ist sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet worden. Ich liebe sie, und ich will sie haben.” “Willst du ihn?” fragte ihr Vater. Und sie sagte einfach ”Ja” und wusste, dass sie nach Hause gekommen war.

In der Bibel findet man die Hintergrundtexte dieser Erzählung in Josua 2, Josua 6, Matthäus 1, Jakobus 2 und Hebräer 11.

3 Gedanken zu „Die Hure

  1. Margelist

    Weisst du, manchmal denke ich, es wäre besser eine Gläubige „Hure“ an der Seite zu haben, als eine Ungläubige Frau. Den auch ich habe viele Sünden in meinem Leben.

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    1. Ruth Autor

      Es gibt keinen von uns, der nicht viele Sünden in seinem Leben hat. Die Frage ist, wollen wir sie hassen und lassen und die Vergebung Jesu annehmen?

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